Globalisierung lautet das Thema für die nächste
Ausgabe der IHRSINN
.
«Solange Frauen in den Industrieländern
...noch hoffen, dass sie irgendwo in diesem
globalen Ausbeutungs- und Gewaltsystem eine Nische für
sich finden können, solange sie noch auf
Gleichstellung mit den Siegern in diesem System,
den Männern als Globalisierungsgewinnern, hoffen
(sie wollen ja nicht mit den armen Bauern in Indien
gleichgestellt werden), solange werden sie weder
das Systemals Ganzes durchschauen, noch werden sie
eine Perspektive einer Wirtschaft und Gesellschaft
entwickeln können, die nicht mehr auf der
fortgesetzten Kolonisierung der Natur, der Frauen
und fremder Völker und Gemeinschaften
beruht» (Maria Mies, 2001).
1995 erschien IHRSINN Nr. 12 «Lesben
International». Lesben aus vierzehn Ländern und
vier Kontinenten berichteten über die
Lebenssituation von lesbischen Frauen in ihren
Ländern, über ihre Probleme, Erfolge und Ziele –
persönlich und politisch. Texte kamen aus Ländern,
die nach der klassischen politischen Einteilung der
70er Jahre zur Ersten, Zweiten und Dritten Welt gehörten, in der Terminologie
der radikaleren linken und feministischen
Bewegungen zu den Metropolenstaaten und dem Trikont
oder, wie es aktuelleren Begrifflichkeiten entspricht, zu
den Ländern des globalen Nordens und des globalen Südens. Verbindungen zwischen
Lesben(gruppen) weltweit herzustellen,
«...Alternativen zu einer Politik der
Grenzen und der Begrenzungen zu entwickeln », wie es auch
die im Vorwort formulierte Absicht der IHRSINN
International war, könnte auch verstanden werden
als eine Art von Globalisierung, wie sie in
positiver Wendung des Begriffs aktuell von verschiedenen
Seiten gefordert und praktiziert wird. Absicht ist,
der ökonomisch-politischen Globalisierung, die
letztlich wenig mehr ist als eine zeitgenössische
Form des (Neo-)Imperialismus, etwas
entgegenzusetzen.
«Sisterhood is global» stellten Feministinnen bereits
in den 70/80er Jahren fest. Das Buch mit
diesemTitel, herausgegeben von Robin Morgan,
erschien 1985 nach zwölfjähriger Arbeit des gleichnamigen
Projekts. Es bezieht sich auf siebzig Länder von
Afghanistan bis Zimbabwe. Die ausführlichen
statistischen und inhaltlichen Darstellungen der Situation von Frauen und der
Frauenbewegung in den jeweiligen Staaten
thematisieren auch die Frage nach den Möglichkeiten
lesbischen Lebens. Solche und ähnliche Projekte
beabsichtigten zunächst, internationale
Frauen/Lesbenbewegung(en) zu dokumentieren und
damit zu stärken. Darüber hinaus formulierten sie
als Ziel, die auch unter Frauen/Lesben wirksamen
Unterdrückungsstrukturen des Nordens gegenüber dem
Süden, später auch des Westens gegenüber dem Osten wahrzunehmen,
zu analysieren und ihnen politisch
entgegenzuwirken.Frauen/Lesben gegen Imperialismus und
Patriarchat nannte sich eine dieser Bewegungen
in den 80er Jahren in der alten BRD, die neue
Weltwirtschafts(un)ordnung und internationale
Bevölkerungspolitik hießen damals die Inhalte dieses feministischen
Aktivismus, Begriffe, die auch heute noch wichtige
Aspekte des Globalisierungsprozesses
beschreiben.
Die feministische Literatur zum Thema
Globalisierung ist beeindruckend.
Die beiträge zur feministischen
theorie und praxishaben das Thema von Anfang an zu
einem zentralen gemacht. In der ersten Ausgabe 1978
formulierten es die Herausgeberinnen so: «Frauenausbeutung
und Frauenunterdrückung ist heute über ein
Weltmarktsystem international organisiert. Die
Diskussion um feministische Theorie und Praxis muss
diese internationale Dimension der Frauenfrage berücksichtigen,
wenn eine gültige Antwort gefunden werden soll.» Auch
die österreichische Frauensolidarität
beschäftigt sich seit 25 Jahren mit
dem Thema. 1988 war in den feministischen beiträgen
Nr. 23 Modernisierung der Ungleichheit weltweit
auch noch nicht von der Globalisierung, sondern von der Durchkapitalisierung aller Länder
die Rede. Etwa seit 1997 erschienen dann die ersten
feministischen Bücher und Zeitschriftenausgaben
explizit zum Begriff der Globalisierung. Globale Gerechtigkeit –
feministische Debatte zur Krise des
Sozialstaats, herausgegeben von Helga Braun
und Dörthe Jung (1997), Globalisierung aus
Frauensicht, herausgegeben von Ruth Klingebiel
und Shalini Randeria (1998, übrigens eine sehr gute
Einführung ins Thema), Die globale Frau
von Christa Wichterich (ebenfalls 1998), das Heft
111/98 der Prokla (Zeitschrift für kritische
Sozialwissenschaft) mit dem Schwerpunkt
´Globalisierung und Gender und die beiträge Nr. 47/48/1998:
global – lokal – postsozial.
Erst vor wenigen Monaten erschienen zwei
weitere, umfassende Bände: Die andere Hälfte der
Globalisierung (herausgegeben von Steffi Hobuß u.a.) und
Geschlecht und Globalisierung, herausgegeben von Sabine Hess und
Ramona Lenz (beide 2001).
Wir können davon ausgehen, dass an all diesen
Veröffentlichungen feministische Lesben beteiligt
waren. Leider spiegelt sich dies bisher kaum in
einer explizit lesbisch-feministischen Sichtweise,
die entweder speziell auf die Situation von Lesben
eingeht oder Aspekte von Heterosexualität/Heterosexismus in den Blick nimmt.
Heterosexualität als Thema wird in diesen Veröffentlichungen
überhaupt nur äußerst selten angesprochen (egal, ob
von sich lesbisch oder heterosexuell definierenden
Autorinnen). Eine Ausnahme ist Chandra Talpade
Mohanty, die in ihrem Text Arbeiterinnen
und die globale Ordnung des Kapitalismus:
Herrschaftsideologien, gemeinsame Interessen und
Strategien der Solidarität (1998, in:
Globalisierung aus Frauensicht) auch überheterosexuelle Ideologie» und
«Heterosexualisierung von Frauenarbeit schreibt.
Es stellt sich die Frage, ob es überhaupt eine
anti-heterosexistische, lesbisch-feministische
Analyse der Globalisierungsprozesse geben kann, und
falls sich diese Frage positiv beantworten lässt,
wie eine solche aussähe. Ideen hierzu finden sich bisher nur
spärlich. Ausnahmen sind die englische,
lesbisch-feministische Autorin Rosemary Hennessy,
von der in deutscher Sprache ein Aufsatz über
Lesbisches Begehren im Spätkapitalismus(der
eben auch ein globaler Kapitalismus ist) vorliegt (in: Das Argument Nr. 216, 1996),
und Iris Nowak, die in der IHRSINN 21/00Über die
Notwendigkeit, Begehren neu zu denken – Frauen,
Arbeit und lesbische Kultur im Neoliberalismus
schreibt. Auch andere Texte der IHRSINN
21/00 geben Anstöße zur lesbisch-feministischen
Auseinandersetzung mit der Globalisierung. Zum Thema Migration, einem
zentralen Aspekt der Globalisierung, findet sich
aus lesbischer Sicht einiges im anfangs erwähnten
Lesben International-Heft der IHRSINN und in einem
Artikel von Maria del Mar Castro Varela im zweiten Lesbenheft der
beiträge zur feministischen theorie
und praxis Nr. 52/1999: Queer the queer! Queer Theory
und politische Praxis am Beispiel von Lesben im
Exil.
Insgesamt besteht noch ein großer Denk- und
Schreibbedarf.
Ähnlich wie die Frage nach der
Theorie-Produktion stellt sich die nach der
Bewegungspraxis: Dass Feministinnen, auch feministische
Lesben, in den Bewegungen gegen die neoliberale
Globalisierungspolitik aktiv sind (etwa bei Attac),
steht außer Frage.
Aber haben sie eine eigene Praxis entwickelt
oder sind sie als Individuen Teil von geschlechtlich gemischten, aber
nach wie vor (oder wieder?) männerdominierten
(neulinken?) Bewegungen?
Der Ökofeminismus mit seinen bekannten
Protagonistinnen wie Maria Mies (BRD) oder Vandana
Shiva (Indien), beide sowohl Theoretikerinnen wie
Aktivistinnen der Anti-Globalisierungs-Bewegungen
war von Anfang an eine starke, auch einflussreiche
Kraft in den Reihen der GlobalisierungsgegnerInnen.
Wie sieht es hier mit einer
lesbisch-feministischen Praxis aus?
In der nächsten IHRSINN wollen wir beides
ausführlich kennen lernen – die Theorie
und die
Praxis der feministischen Lesben zum
Jahrtausendthema Globalisierung. Wichtig ist uns zu sagen,
dass die Kenntnis der oben genannten Literatur
keinesfalls Voraussetzung fürs Schreiben sein soll.
Wir sind sehr interessiert an Beiträgen, die – auch
unabhängig von jeder Theorie – über die konkreten,
praktischen Auswirkungen auf das Leben von Frauen/
Lesben weltweit berichten; z.B. über
– Veränderungen von Arbeitsmärkten und
Arbeitsbedingungen weltweit: ökonomische und
ökologische Gefahren; materielle, gesundheitliche
und psychische Gefährdungen
– Feminisierung von Armut, zunehmende
Arbeitslosigkeit und ökonomische
Abhängigkeiten – Gewalt gegen Frauen/Lesben,
etwa im Zusammenhang mit extremen
Arbeitsbedingungen in Freihandelszonen, aber auch
auf dem lukrativsten Markt des heteropatriarchalen
Neoliberalismus: Frauenhandel und
Zwangsprostituion international – Flucht und
Migration als Resultat der Zerstörung von
Existenzmöglichkeiten – die besonderen
Gefährdungen durch Behinderungen, Krankheit und
Alter, aber auch durch die Verantwortung für Kinder
im neoliberalen
Unsozial-Staat – Auswirkungen von Computer- und
Informationstechnologien auf alle Lebensbereiche
– Frauen/Lesben, die sich nicht nur
geografisch, sondern in jeder Hinsicht auf
beiden Seiten befinden: viele als Verliererinnen
des Globalisierungsprozesses, manche aber auch als
Gewinnerinnen.
Dankbar sind wir auch, wenn Leserinnen uns
Kontakte zu möglichen Autorinnen weltweit
vermitteln. Die Übersetzung von Texten organisiert die Redaktion,
über Übersetzungsangebote freuen wir uns dennoch
immer.
IHRSINN Nr. 27 erscheint im Juni
2003
Redaktionsschluss für Text- und Bildbeiträge
ist der
15. März 2003. |