Vorankündigung im Heft NR 23

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Vorankündigung IHRSINN Nr. 24:
Solidarität (Arbeitstitel)

Warum jetzt ein Heft zum Schwerpunkt Solidarität? Ist Solidarität nur mehr eine politisch pompöse Worthülse – ein Begriff, der zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig Kraft hat? Oder kann eine kritische Auseinandersetzung mit traditionsbeladenen Werten der Solidarität politisch belebend wirken? Nach Humor. Ein Versuch (Heft 23) nun also Solidarität – noch ein Versuch, ver/suchend schreiten wir voran.

Politische Kategorien, die im Widerstand gegen Unrecht und Unterdrückung entstanden sind, werden nicht selten von Herrschenden besetzt. Die bürgerlichen Parteien haben, anknüpfend an Grundsätze christlicher Soziallehre oder Traditionen der Arbeiterbewegung, Solidarität in ihre Programme geschrieben. Liest frau die Tageszeitung, erscheint das nur zynisch – nicht zuletzt bei aktuell hoch gekochten Faulenzer- und Leitkultur-Debatten unter Stammtisch-Niveau. Solidarität tritt auf der neoliberalen Bühne nicht ohne Geleitschutz von Selbstverantwortung und Selbsthilfe auf – zwei Konzepte, die in diesem Zusammenhang vor allem Tendenzen zu Entsolidarisierungen kaschieren und effektiv fördern. «Fördern und fordern» lautet die staatliche Devise, nach der vor allem das gute Über/Leben so genannter Eliten gefördert wird.

Bevor hier schon der erste Ansatz, über Solidarität nachzudenken, zum Versuch über verlorene Solidarität gerät, sei an widerständige und produktive Aspekte von Solidarität erinnert und – unser Hauptanliegen mit diesem Schwerpunktthema – nach neuen Möglichkeiten gefragt.

Klassensolidarität hat sich in der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert entwickelt. Zusammengehörigkeitsgefühl, gegenseitige Unterstützung und gemeinsames Handeln gegen Ausbeutung standen im theoretischen Kontext einer marxistischen Analyse gesellschaftlicher Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit. Kennzeichen organisierter Solidarisierungsprozesse war die internationale Ausrichtung. In Westdeutschland knüpften die APO (außerparlamentarische Opposition nach 1966) und die Studentenbewegung an diese linken Traditionen an. Proletarische Basisarbeit und die Solidarität mit Befreiungsbewegungen der 3. Welt waren zentrale, aber auch problematische Felder im antikapitalistischen Kampf einer vorwiegend intellektuell geprägten Bewegung. Interessenslagen und politische Vorstellungen zwischen Arbeitern und Studenten waren durchaus nicht identisch. Und dann reklamierten auch noch die Frauen eine ‹eigene Identität›, eigenwillige Vorstellungen von Freiheit – ja, Abenteuer – und Solidarität.
Welche wagt einen (selbst)kritischen Blick zurück auf (ihre) prä-feministisch-lesbische Geschichte? Und das nicht nur im Westen; sehr spannend wäre es, etwas von Autorinnen mit DDR-Erfahrung zu Solidarität in den 60ern und 70ern zu lesen.

«Hoch die Internationale Solidarität» hört frau immer noch vereinzelt – sogar auf Frauen/Lesben-Demos, wenn vielleicht auch mit etwas Wehmut, etwas Selbstironie. Die politischen Werte oder gar Utopien, die sich hinter dieser überdauernden Parole erahnen lassen, können so verkehrt nicht sein – gerade in Anbetracht von Globalisierung und transnationalen politischen Gegenbewegungen. Inwiefern bringen Lesben sich individuell, strategisch, analytisch in transnationale Auseinandersetzungen zu Globalisierung und Neoliberalismus ein? Werden Lesben in der globalen Vernetzung von Frauen gegen Ausbeutung, Gewalt und Unrecht nur individuell sichtbar? Welche politischen Ansätze gehen über Sichtbarkeit hinaus? (Stichwort: Lesbenpolitik auf der Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking – was kam danach?) Wie hat sich internationale Frauensolidarität in den letzten 25 Jahren entwickelt, welche Bedeutung hat/te sie für Lesben? Ost-West-Süd-Nord-Unterschiede sind dabei ebenso von Gewicht wie interkulturelle Differenzen.

«Sisterhood is powerful!» Dieses Leitmotiv kollektiver Frauenstärke wurde nach einigen Erfahrungen mit Macht und Unterdrückung unter Frauen skeptisch gewendet: «Sisterhood is powerful – it can kill you!» Wo Solidarität unter Schwestern ist, ist ebenso ein Potenzial für Privilegien, Dominanz, Spaltungen und Konkurrenzen. Die frauen- und lesbenbewegte Geschichte weist Erfolge wie Misserfolge der Solidarisierung auf – z.B. zwischen Lesben und Heteras (Stichworte: §218, Itzehoe-Prozess), zwischen Lesben unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft (Stichworte: Sub- und Bewegungslesben, Lesben der Dominanzkultur und lesbische Migrantinnen, Lesben aus unterschiedlichen Herkunftsländern), zwischen Lesben und anderen politisch bewegten Gruppen. Solidarisierung kann auf ähnlichen Lebensrealitäten und Unterdrückungserfahrungen basieren oder auf Grund verschiedener, gegenseitig unterstützter Interessen und Ziele geübt werden (Stichworte: Verweigerungsstrategien, Frauenstreiktage, Vernetzungen).
Ein Kennzeichen für Solidarisierungsprozesse von Frauen und von Lesben war bzw. ist «Subjektivität»: eigene Interessenslagen, Konflikte, Wunschvorstellungen werden nicht außen vor gelassen, sondern führen zu einer bewussten Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Widersprüchen und ihrer Veränderbarkeit. Der Grundsatz «Du bist als Frau erst frei, wenn alle Frauen frei sind» bringt das Verhältnis von Individualität und gesellschaftlichen Bedingungen auf den Punkt. Solidarität braucht nicht die vermeintlich Hilflosen und die vermeintlich Helfenden, Solidarität braucht gegenseitiges Anerkennen unterschiedlicher Realitäten und die Sehnsucht, Herrschaft und Unterdrückung abzuschaffen.

Aber nicht nur freiwillige Einsicht in soziale und politische Notwendigkeiten gehören zur Solidarität; Solidarität hat gleichzeitig einen einfordernden Charakter – manch eine LFT-Besucherin erinnert sich hier möglicherweise an die «Schutz-und-Putz»-Appelle. Apropos Lesbenfrühlingstreffen – politisch-kulturelle Großveranstaltungen dieser Art bieten ein breit gefächertes Spektrum zu den hier angeschnittenen Fragen: Gestaffelte Eintrittspreise (auf freiwilliger Basis oder nach einer Einkommensskala vorgegeben?), unzählige Helferinnendienste, BundesJungLesbenFonds, Bereitstellung von Schlafplätzen, Art der Kritik, Ermöglichung der Teilnahme für unterschiedliche Lesben z.B. durch Übersetzungen, durch räumliche Gegebenheiten für Andersfähige und Kinderbetreuungsangebote für Lesben mit Kindern – Beispiele für solidarisches oder unsolidarisches Verhalten kennt jede.
Unterschiedliche Formen und Verbindlichkeiten von Solidarität lassen sich vielleicht grob unterscheiden nach eher spontanen solidarischen Verhaltensweisen und kontinuierlicher, organisierter Solidarität. Uns interessieren sowohl Erfahrungen aus der Alltagswirklichkeit als auch politische Ideen und Modelle, die Alternativen gegen Rassismus, herrschende Asylpolitik, Armut, Gewalt, gegen Individualisierungstendenzen und Isolierungen entwickeln. Welche neuen Formen sind denkbar – Unterstützungsnetzwerke für Krisensituationen, Förder- und Finanzierungsmodelle, Übungen in solidarischer Kritik usw. Taucht der Begriff Solidarität vielleicht in neuen Sprach-, Denk- und Handlungszusammenhängen auf? Welchen Stellenwert hat er in queerem Denken und Handeln?

Es ist vielfach die Rede von einer gesamtgesellschaftlichen Entsolidarisierung bei gleichzeitig zunehmendem Rassismus und Rechtsextremismus. Führen verschärfte Verteilungskonflikte in verschiedenen Bereichen – beispielsweise bezogen auf politische Rechte, Arbeit, Finanzen oder kulturelle Möglichkeiten – zwangsläufig zu mehr Egoismus und verschärfter Konkurrenz? Welche Erfahrungen machen Lesben mit Konkurrenz im Berufs­alltag? Und mit Konkurrenz oder eben Solidarität im feministisch-lesbischen Projektealltag und zwischen Projekten? Was hat das mit Politik zu tun, mit einem feministischen, antirassistischen Politikverständnis von Lesben ?
Zu analysieren wäre auch, wodurch Solidarisierungsprozesse im Einzelnen verhindert werden: durch staatliche Politik, durch Neoliberalismus und New Economy? Durch Ignoranz, klischeehafte Wahrnehmungen anderer, durch elitäre, ausgrenzende Umgangsweisen?
Ist Solidarität nur noch zeitgemäß, wenn unmittelbar ein Eigeninteresse dabei deutlich wird? Überspitzt: ich spende nur für steuerbegünstigte Zwecke gegen Quittung, ich setze meinen Namen auf die Unterschriftenliste für die Initiative XX, weil ich auf einen potenziellen Arbeitsplatz in dem zu entwickelnden Projekt spekuliere... Glücklicherweise machen wir auch andere Erfahrungen; beispielsweise könnte ein Projekt wie IHRSINN ohne solidarische Unterstützung nicht existieren.
Nicht nur deshalb behaupten wir schlussendlich: Solidarität ist elementar für ökonomische, politische, kulturelle Alternativen. Und sind gespannt auf Wort- und Bildbeiträge, die sich kritisch, kontrovers, solidarisch in eine Debatte über Solidarisierungs- und Entsolidarisierungsprozesse einmischen.

IHRSINN Nr. 24 erscheint im Dezember 2001. Einsendeschluss ist der 15. September 2001.

Vorvorankündigung Nr. 25: Generationen Erscheint im Juni 2002, Redaktionsschluss ist der 15. März 2002.

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